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Die Geschichte der Enzyklopädie weiterschreiben

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[Ein Beitrag in der Reihe der Open Peer Review-Publikation „Wikipedia in der Praxis“ – Nr. 7]

Die Geschichte der Enzyklopädie weiterschreiben. Eine Unterrichtseinheit mit Kommentarfunktion

von Philippe Weber

1. Was ist eine Enzyklopädie?

Eine Enzyklopädie ist eine wunderbare Sache. Sie zerlegt die Welt des Wissens in einzelne Wörter, in Lemmata. Die Zerlegung des Wissens in die arbiträre Ordnung des Alphabets, wie sie sich mit Diderots und d’Alemberts „Encyclopédie“ durchsetzte, war quasi ein didaktischer Akt: Sie machte die komplexe Welt des Wissens mit den Einstiegsportalen der Lemmata für jeden Lesekundigen zugänglich. Eine Enzyklopädie, so Diderot beim Lemma „Encyclopédie“, sammle die Kenntnisse der Welt und stelle sie mit einem „système génerale“ den Zeitgenossen und den Nachkommen zur Verfügung. Damit einher ging ein Heilsversprechen: Dank einer Enzyklopädie würden die Nachkommen „plus vertueux et plus heureux“ werden.1 Diderots enzyklopädische Mission war auf engste mit der aufklärerischen „Ordnung der Dinge“ verflochten.2 Das Forschen sollte nach einem Wissen streben, das die Dinge mittels der Sprache und ihren Begriffen exakt repräsentierte. Das enzyklopädische Format machte aus diesem Anspruch ein didaktisches Projekt: Wissen liess sich nach den Regeln der Sprache in Lemmata zerlegen und so jedem vernünftigen Menschen zugänglich machen.

Die Euphorie des Denis Diderots ist mittlerweile ein wenig verflogen. Seit dem Einbruch der Geschichte in die Welt der Sprache und des Wissens im 19. Jahrhundert haftet dem enzyklopädischen Vorhaben etwas Rührseliges an.3 Im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts hat die Geschichtsforschung Wissen als dynamisches, vernetztes und widersprüchliches Geflecht herausgearbeitet, das an Autoren, Institutionen, Zeichensysteme, Objekte und Forschungspraktiken oder eben Geschichte gebunden ist.4 Vor diesem Hintergrund setzt das enzyklopädische Verfahren darauf, Wissensbestände aus den Entstehungskontext herauszureissen und in einzelne Lemmata zu zerlegen. Es sammelt („rassembler“5) also nicht nur, sondern verändert das Wissen mittels Entkontextualisierung. Das enzyklopädische Wissen, das so entsteht, will quasi zeitlos sein: Die Darstellung der „connoissances éparses sur la surface de la terre“.6 Dummerweise nagt die Geschichte konstant an diesem Anspruch und macht das enzyklopädische Projekt zur Sysiphus-Arbeit: Clio lässt die Enzyklopädie immer wieder ins Tal rollen. Dementsprechend waren die zahlreichen Enzyklopädien, die seit dem 19. Jahrhundert die Nachfolge von Diderots und d’Alemberts „Encyclopédie“ antraten, immer bloss eine Drucklegung von der nächsten überarbeiteten Neuauflage entfernt.

Natürlich erfuhren auch Diderot und d’Alembert die Veränderbarkeit des Wissens. Diderot fügte im Lemma „Encyclopédie“ den oben zitierten Hoffnungen längere Ausführungen über die Probleme und Strategien beim Erstellen einer Enzyklopädie an. Darin verwies er unter anderem auf die Veränderungen des Wissens. Die Fortschritte im letzten Jahrhundert würden es nötig machen, das Wissen zu sammeln und zu sichern. Gleichzeitig verändere sich das Wissen weiterhin, so dass das Werk in den Händen seiner Schöpfer zerrinne: „l’ouvrage se défigurera sans cesse sous les mains des travailleurs.“7 Diese Erfahrung war wohl nicht ganz so euphorisierend, und es ist deshalb kein Wunder, dass Diderot zeitlebens mit seinem unendlichen Projekt der „Encyclopédie“ haderte.8

Die exakt 250 Jahre nach der Erstpublikation der „Encyclopédie“ gegründete Wikipedia hat mit den digitalen Möglichkeiten der Online-Vernetzung, der immensen Speicherkapazität, der Hypertextstruktur und der Produser-Autorschaft das Verhältnis von Geschichte und enzyklopädischem Wissen neu konfiguriert.9 Das enzyklopädische Wissen der Wikipedia ist weniger entkontextualisiert und deshalb direkter verbunden mit der nicht-enzyklopädischen Wissensproduktion als die analogen Vorgänger. Dies ist insbesondere auf die immense Erhöhung der Quantität im Bereich der Lemmata, Autoren, Wissensinhalte und Literaturbelege sowie die Möglichkeiten der Aktualisierung und der rigorosen Fussnotenpraxis zurückzuführen. Der Kampf gegen Clio ist allerdings auch digital nicht zu gewinnen. Gerade die immense Menge an Inhalten führt dazu, dass nicht sämtliche Inhalte konstant aktualisiert werden. Dementsprechend stehen sich regelmässig aktuelle und veraltete Wissensbestände gegenüber.

Die Möglichkeiten der Aktualisierung und die Präsenz veralteter Wissensbestände sind Ausgangspunkt der Unterrichtseinheit, die ich in diesem Artikel vorstellen möchte. Im Zentrum stehen Wikipedia-Artikel zum Themenfeld „Entdeckungen und Eroberungen in der Frühen Neuzeit“, die stark, partiell oder zumindest latent einer aus heutiger Sicht problematischen eurozentrischen Darstellung folgen. Die Schülerinnen und Schüler werden während der Unterrichtseinheit aufgefordert, die entsprechenden Artikel zu problematisieren und zugleich zur Aktualisierung beizutragen.

In vorliegenden Aufsatz stelle ich zunächst dar, wie die aktuelle Wikipedia einerseits adäquate Ausführungen zu Eurozentrismus sowie eine entsprechend reflektierte Darstellung der europäischen „Entdeckungen und Eroberungen“ enthält und wie andererseits problematische eurozentrische Darstellungen des Themas weiterhin präsent sind. Im anschliessenden dritten Kapitel zeige ich, wie ich die Klasse an dieses Thema heranführte. Im vierten Kapitel führe ich aus, wie ich den Schülerinnen und Schüler Informationen über „Eurozentrismus“ und „Entdeckungen und Eroberungen“ vermittelte, damit sie anschliessend beurteilen konnten, ob und inwiefern Darstellungen der Wikipedia eurozentrisch sind (Kapitel 5). Im abschliessenden sechsten Kapitel reflektiere ich den Lernprozess mit einem wissenstheoretischen Ansatz.

Ich habe als Geschichtslehrer die Unterrichtseinheit im Januar 2015 mit zwei dritten Klassen (9. Schuljahr) am Gymnasium der Kantonsschule Zug durchgeführt. Die Einheit dauerte insgesamt neun Lektionen.

2. „Entdeckungen und Eroberungen“ in der Wikipedia

Eurozentrismus sei „die ideologische Beurteilung inner- und aussereuropäischer Gesellschaften nach europäischen Vorstellungen“, lehrt uns die Wikipedia (zumindest am 22. Juni 2016).10 Historisch gäbe es eine Verbindung zwischen Eurozentrismus und dem Kolonialismus. Über den entsprechenden Link kann man sich zum Lemma „Kolonialismus“ weiterklicken, wo umgekehrt auf das Lemma „Eurozentrismus“ verwiesen wird.11 Vom Lemma „Kolonialismus“ aus lässt sich ganz im Stil der „Wikipedia-Rallye“12 zur „Entdeckung Amerikas 1492“ weiterreisen.13 Dieser Artikel ist in eine hierarchische Lemma-Struktur eingeordnet. Das übergeordnete Lemma „Entdeckung Amerikas“ verortet das Ereignis als eine mehrerer Entdeckungen und macht auf die europäische Prägung des Begriffs aufmerksam. Im Lemma „Entdeckung Amerikas 1492“ wiederum werden im Abschnitt „Begriff“ die problematischen, insbesondere eurozentrischen Aspekte des Begriffs hervorgehoben. Diese Passagen wurden gemäss der gespeicherten Versionsgeschichte am 17. Januar 2010 eingefügt.

Während der Kontext die Eurozentrismus-Kritik der Postcolonial-Studies umzusetzen versucht, folgt der Haupttext des Artikels „Entdeckungen Amerikas 1492“ ohne Quellennachweis weitgehend der eurozentrischen Erzählung, die Kolumbus selbst in seinem Bordbuch aufgetischt hat.14 Offensichtlich nahmen die Online-Enzyklopädisten, allenfalls vermittelt über Sekundärliteratur, eine unbeholfene Paraphrasierung europäischer Quellen vor und setzten so die rhetorische Tradition der „Entdecker und Eroberer“ fort. So wird von Inselbewohnern berichtet, die „bereitwillig auf den Handel“ eingingen und „ihrerseits Gold, Wurfspiele, Baumwollfäden und gezähmte Papageien an die Neuankömmlinge“ gaben.15 Die wichtigsten Punkte dieser eurozentrischen Erzählung inklusive der zitierte Satz waren in der ersten, am 22. März 2004 erstellten Version des Artikels vorhanden und wurden seither insbesondere mit zusätzlichen Einzelheiten ausgeschmückt.
Die partielle Orientierung an den eurozentrischen Darstellungsformen der Entdecker und Eroberer gilt für viele Lemmata, die inhaltlich zum schulischen Themenbereich „Entdeckungen und Eroberungen“ passen: von einzelnen Entdeckungsfahrten über Eroberungen bis zur Geschichte der Kolonialreiche. Es handelt sich um Lemmata, die wohl auch von vielen Schülerinnen und Schülern zur Vor- und Nachbereitung des Unterrichtsthemas konsultiert werden.16 Wenn nun aber die eurozentrische Darstellung der Entdecker und Eroberer als Teil kolonialer Machtpolitik verstanden werden muss,17 so steht mit der Frage nach der Eurozentrik der Wikipedia das Problem im Raum, ob Wikipedia und allenfalls eben auch der Geschichtsunterricht die Eroberungspraxis wiederholt. Genau darum ging es in der nun vorzustellenden Unterrichtseinheit.

3. Einstieg

Die ersten zwei Lektionen der Unterrichtseinheit sollten an das Thema heranführen. Zunächst stellte ich mit dem Lied „Amerika git’s nid“ der Schweizer Rockband „Züri West“ das konventionelle Entdeckungsnarrativ zur Disposition.18 Nun erhielten die Schülerinnen und Schüler Auszüge aus Kolumbus‘ Bordbuch, das sie mit vorgegebenen narratologischen Kategorien erschliessen mussten (M1). Die Resultate dieser Quellenarbeit wurden im Plenum mit einem elektronischen Mind-Map gesichert, um anschliessend die Quelle als eurozentrisch zu problematisieren (M2). Dass die Rhetorik konstitutiver Teil der europäischen Machtpolitik war, machte ich schliesslich in einem Lehrerreferat deutlich. Dabei übertrug ich die Resultate der Quellenkritik zu den Bordbüchern auf den bekannten Kupferstich Theodor de Brys, in dem der Akt der Entdeckung mit der Eroberung identisch ist.19) Wie wirkungsmächtig dieses eurozentrische Narrativ ist, zeigte ich mit einer Analyse der Landung Kolumbus‘, wie sie Ridley Scott in seinem Historienfilm inszenierte.20 Schliesslich verwies ich auf die erwähnten problematischen Passagen im Lemma „Entdeckung Amerikas 1492“ in der Wikipedia. Damit war nicht nur die Leitfrage der Unterrichtseinheit, sondern auch ihre Brisanz lanciert: Ist die Wikipedia eurozentrisch?

3. Enzyklopädische Phase

Um adäquat an der Leitfrage arbeiten zu können, mussten sich die Schülerinnen und Schüler in der dritten und vierten Lektion Wissen aneignen. Erstens sollten die Schülerinnen und Schüler das Konzept des Eurozentrismus kennenlernen. Zweitens waren historische, möglichst nicht-eurozentrische Kenntnisse über „Entdeckungen und Eroberungen“ nötig, damit die Schülerinnen und Schüler für die anschliessende Phase der Wikipedia-Kritik über eine Vergleichsfolie verfügten. Selbstverständlich gibt es für die Vermittlung dieses Wissens unterschiedlichste didaktische Möglichkeiten. Passend zum Untersuchungsobjekt wählte ich die enzyklopädische Methode: Ich präsentierte sozusagen zwei Lemmata („Eurozentrismus“ sowie „Entdeckungen und Eroberungen“), befreite die Informationen aus ihrem Entstehungskontext und setzte auf die Merkmale einer guten enzyklopädischen Darstellung: „courte, exacte, claire & précise“.21
Konkret entschied ich mich beim Konzept „Eurozentrismus“ auf eine Definition, die ich selbst herstellte, um möglichst hohe Anschlussfähigkeit an die vorangegangene und die noch folgenden Lektionen zu garantieren. Für die Darstellung der „Entdeckungen und Eroberungen“ griff ich auf die enzyklopädischen Ausführungen des analogen DTV-Atlas „Weltgeschichte“ zurück.22 Darin sind zwar weder Text noch Graphik frei von Eurozentrismen, allerdings führt die Reduktion auf eine chronologische Auflistung zu einem sehr spärlichen Gebrauch klassischer rhetorischen Formen des Eurozentrismus. Zudem ergänzte ich die Darstellung des DTV-Atlas mit einem Lehrervortrag über ethnographische Erkenntnisse zu den indigenen Kulturen Amerikas.

4. Die Phase der „Kontamination“

Nun waren die Schüler bereit, die Leitfrage der Unterrichtseinheit selbständig zu bearbeiten: Ist die Wikipedia eurozentrisch? Die Schülerinnen und Schüler wählten jeweils zu zweit aus einer Liste ein passendes Lemma der Wikipedia zum Themenbereich „Entdeckungen und Eroberungen“ aus und untersuchten dieses im Hinblick auf die Leitfrage (M3). Für diese Gruppenarbeit erhielten die Schülerinnen und Schüler zwei Lektionen Zeit. Die Resultate mussten auf zweifache Weise dokumentiert werden: Erstens wurden die Schülerinnen und Schüler dazu angehalten, ihre Reflexionen auf der Diskussionsseite des ausgewählten Wikipedia-Lemmas festzuhalten. Zweitens hielten sie die Resultate der Aufgabe auf Power-Point-Folien fest, die als Grundlage für die Präsentation der Gruppenresultate im Plenum dienten. Für die anschliessende Plenumsphase wurden nochmals zwei Lektionen aufgewendet.

Die Resultate der Gruppenarbeiten und die anschliessenden Plenumsdiskussionen zeigten, dass dank der Aufgabe die Schülerinnen und Schüler das zuvor erworbene Wissen über Eurozentrismus und „Entdeckungen und Eroberungen“ festigen konnten. Das Ziel der Aufgabe bestand allerdings, über eine Reproduktion der erlernten Begriffe hinauszukommen. Die Bearbeitung der Aufgabe und die Diskussion der Resultate sollten dazu führen, dass  das erworbene Wissen nicht nur reproduziert, sondern mit Beispielen, Differenzierungen, Zweifeln und Fragen angereichert wurde.

Bei einigen Gruppen war dieser Prozess bereits bei der Arbeit an der Aufgabe weit fortgeschritten. So wies die Gruppe, die das Lemma „Atlantischer Dreieckshandel“ studierte, darauf hin, dass die Bewertung in der deutschsprachigen Wikipedia im Gegensatz zur englischen Version sehr neutral sei.23 Die Neutralität, so die Gruppe, würde zwar gemäss der erlernten Definition gegen eine eurozentrische Darstellung sprechen, aber müsse man nicht sagen, dass genau der Verzicht auf die Bewertung dieses europäischen Massenmords eurozentrisch sei? Besonders intensiv war die Weiterentwicklung und Problematisierung des erworbenen Wissens während den Klassendiskussionen, die auf die Präsentation der einzelnen Gruppenresultate folgten und an denen ich mich als Lehrperson intensiv beteiligte. Diskussionsbedarf entstand beispielsweise bei den Ausführungen der Gruppe, die den Artikel zum Lemma „Indianer“ kritisierte.24 Die „Indianer“ würden als „Masse“ dargestellt, dies sei allerdings nicht die „Absicht des Schreibers“ gewesen, so die Gruppe. Bei der Perspektive hoben dieselben Schülerinnen und Schüler hervor, dass der Artikel sich auf „Forschungen“ beziehe, hingegen habe man „nicht Kontakt zu den Indianern“ gesucht. Beide Punkte führten zu kontroversen Diskussionen: Handelt es sich nur dann um Eurozentrismus, wenn eine entsprechende Absicht vorliegt? Ist eine „indianische Perspektive“ überhaupt möglich, zumal sämtliche Quellen von Europäern produziert wurden? Einen ganz besonderen Dreh erhielten die Diskussionen, wenn sich als Reaktion auf die Einträge der Schülerinnen und Schüler in den Diskussionsseiten andere Wikipedia-User in die Klassendiskussion einklickten. So kriegte die Gruppe, die sich mit dem Lemma „Konquistador“ beschäftigte, auf ihren kritischen Eintrag eine ebenso kritische Antwort zurück. Ein Artikel zu Konquistadoren, so der User „Stauffen“, handle per definitionem von Europäern, insofern sei es „schwer von ‚Eurozentrismus‘ zu reden“. Der Artikel sei dennoch problematisch, weil er „von der Leyenda negra beseelt“ sei.25 Der Verweis auf die „Leyenda negra“ war mit einem Link zum entsprechenden Wikipedia-Artikel versehen. Während der Plenumsdiskussion nahm die Klasse diesen Artikel zur Kenntnis, um anschliessend zu diskutieren, ob die Kategorie „Europäer“ nicht selbst problematisch sei.

Welches Wissen haben nun die Schülerinnen und Schüler erworben? Am Ende eines Lernprozesses soll das Wissen reflektiert, geordnet, systematisiert, repräsentiert und dokumentiert werden. In der Schule und in der Didaktik sprechen wir von der Ergebnissicherung.26 Ich habe mich beim vorliegenden Unterrichtsprojekt für eine Mischung aus individueller und kollektiver Sicherung entschieden. In der abschliessenden neunten Lektion mussten die Schülerinnen und Schüler zunächst individuell und schriftlich reflektieren, zu welchen Erkenntnissen sie über Eurozentrismus gelangten.27 Die mit einem Online-Tool formulierten Erkenntnisse wurden anschliessend mit dem Beamer der ganzen Klasse zugänglich gemacht, so dass zentrale Aussagen mit der ganzen Klasse besprochen und dokumentiert werden konnten. Dabei fokussierten wir insbesondere auf Punkte, die über das enzyklopädische Wissen der ersten Phase hinauskamen, es differenzierten und problematisierten.

Die individuellen Reflexionen zeigten, dass die Schülerinnen und Schüler in diesem Prozess erwartungsgemäss unterschiedlich weit kamen. Regelmässig hervorgehoben wurde, dass Eurozentrismus eine graduelle Angelegenheit sei und Darstellungen dementsprechend unterschiedlich stark eurozentrisch sein könnten. Je nach Ereignis und Fragestellung könnten zudem bestimmte Eurozentrismen durchaus adäquat sein. Einige Schülerinnen und Schüler forderten eine Differenzierung nach Akteuren, weil eben „jeder Europäer wieder eine andere Meinung hat“. Verbreitet war auch ein Bewusstsein, wie schwierig überhaupt eine nicht-eurozentrische Darstellung sei: „Die meisten Quellen über diese Geschehnisse“, so eine Schülerin, „würden aus Europa stammen.“ Man könne zwar versuchen, so ein weiterer Schüler, „den Blickwinkel“ zu verändern, aber ein Europäer bleibe eben Europäer und selbst ein Lexikon sei eben eine europäische Erfindung. Ganz besonders aufhorchen liessen schliesslich Bemerkungen zur Historizität des Begriffs: „Man sollte aber immer darauf achten, dass sich der Eurozentrismus im Verlauf der Zeit verändert hat (vor 200 Jahren dachte man anders als heute).“

5. Reflexion

Was machte es möglich, dass das erworbene Wissen nicht nur reproduziert, sondern mit neuer Komplexität angereichert wurde? Es lohnt sich, den Lernprozess mit einem wissenstheoretischen Zugang zu untersuchen. Der französische Wissenschaftshistoriker Bruno Latour spricht von einer „Reinigung“, wenn Wissensbestände aus ihrem Entstehungskontext, aus ihrer Vernetzung mit Forschern, Gegenstände, Praktiken und Theorien gelöst werden.28 Genau diese „Reinigung“ habe ich als Lehrperson vollzogen, als ich bei der Vermittlung des Wissens über Eurozentrismus und „Entdeckungen und Eroberungen“ mich bei enzyklopädische Darstellungen bediente (Kapitel 4). Der anschliessende Lernprozess der Schülerinnen und Schüler, den die Aufgabe zur Kritik der Wikipedia-Seiten initiierte, setzte das erworbene Wissen in einen neuen Kontext. Die Schülerinnen und Schüler mussten das erworbene Wissen mit Gegenständen vernetzen (Wikipedia-Seiten), dabei bestimmte Praktiken anwenden (hier: Aufgabe, die zur medialen Kritik anleitet) und in einen Austausch mit Lernenden und Lehrenden treten (hier: Klassendiskussion, Rückmeldungen anderer Wikipedia-User). Die Analyse der Lernpraxis zeigt: Produktive Lernprozesse, die über die Wiedergabe enzyklopädischen Wissens hinauskommen, zeichnen sich dadurch aus, dass sie Wissen in einen neuen Kontext setzen. Um in der Sprache Bruno Latours zu bleiben: Das gereinigte Wissen wird rekontaminiert. Mit der anschliessenden Ergebnissicherung wird eine erneute „Reinigung“ vollzogen. Die Reflexion und die Repräsentation des Wissens löschten die Spuren der Produktion.

Im Lernprozess der Schülerinnen und Schüler spiegelt sich das Verhältnis von Geschichte und enzyklopädischem Wissen und damit der Gegenstand, mit dem sich die Schülerinnen und Schüler beschäftigten. Die Enzyklopädie löscht mit dem Verfahren der Entkontextualisierung bis zu einem gewissen Grad29 die Produktionsgeschichte des Wissens, und zugleich holt die Geschichte sie immer wieder ein, weil die Produktion von neuem Wissen die Enzyklopädie als aussehen lässt. Daran arbeiteten sich die Schülerinnen und Schüler ab, wenn sie die veralteten eurozentrischen Wissensbeständen der Wikipedia kritisierten. Dabei widerfuhr ihnen derselbe Prozess, der die Geschichte des enzyklopädischen Wissens prägt: Das vermittelte enzyklopädische Wissen wurde weiterentwickelt und anschliessend wurde das Wissens quasi enzyklopädisch „gereinigt“ und aktualisiert.

Angesichts der Spiegelung von Lernprozess und Gegenstand würde es sich lohnen, die beiden Ebenen kurzzuschliessen. So könnten die Schülerinnen und Schüler als eine weitergehende Form der Ergebnissicherung ihre erworbenen Erkenntnisse über Eurozentrismus und „Entdeckungen und Eroberungen“ als enzyklopädisches Wissen formulieren. Ansatzweise taten sie dies, indem sie ihre Kritik an den eurozentrischen Darstellungen mit Kommentaren auf den Diskussionsseiten der Wikipedia formulierten. Wenn man sich aber vor Augen hält, dass jede Ergebnissicherung eine Form der „Reinigung“ ist, so hätte es sich aufgedrängt, das spezifisch enzyklopädische Verfahren der „Reinigung“ einzusetzen: Als Ergebnissicherung müssten die Schülerinnen und Schüler enzyklopädische Texte schreiben. Sie könnten mit der Wiki-Software eigene Beiträge verfassen oder die Artikel der Wikipedia weiterschreiben.30

Da die Unterrichtseinheit sowohl Lernprozesse zu Eurozentrismus als auch zu „Entdeckungen und Eroberungen“ ermöglichen wollte, wären enzyklopädische Texte zu beiden Themen denkbar. Besonders herausfordernd wäre die zweite Option: Die Schülerinnen und Schüler müssten in enzyklopädischer Form triftige Geschichten über „Entdeckungen und Eroberungen“ erzählen, ohne in die Fallen des Eurozentrismus zu tappen. Eine solche Aufgabe würde über die Sicherung der bereits erworbenen Erkenntnisse hinausgehen. Es ginge dann nicht bloss um die „Dekonstruktion“ der Wikipedia-Artikel, sondern auch um die „Rekonstruktion“ des historischen Wissens.31 Eine ganz besondere Chance bestünde darin, die kritisierten Artikel der Wikipedia inhaltlich zu bearbeiten.  Dies würde den eigentlichen Einsatz der Unterrichtseinheit nochmals unterstreichen: Schülerinnen und Schüler können die Geschichte der Enzyklopädie weiterschreiben. Schade, dass ich diese Chance nicht packte. Nicht nur das Lernen, sondern auch das Lehren ist eben eine enzyklopädische Angelegenheit. In dieser Sysiphus-Arbeit liegen das Glück und die Freiheit des Lehrers, der Lehrerin.32

 

6. Materialien

(Auf die Bilder klicken, um sie zu vergrössern.)

M1: Aufgabenblatt zur Quellenkritik an Kolumbus‘ Bordbuch

M1: Aufgabenblatt zur Quellenkritik an Kolumbus‘ Bordbuch

M2: Sicherung der Quellenkritik

M2 Sicherung Quellenkritik

M3: Aufgabenblatt zur Kritik an Wikipedia

M3: Aufgabenblatt zur Kritik an Wikipedia

  1. Denis Diderot : Encylopédie. In : Denis Diderot/Jean Baptiste le Rond d’Alembert (Hrsg.) : Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Paris, 1751, S. 635-648, Zitate : S. 635.
  2. Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M. 1974, S. 46-210
  3. Vgl. ebd., S. S. 269-366.
  4. Vgl. grundlegend: Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt am Main 1980; als Einführung in die an Fleck anschliessende Historiographie vgl. Philipp Sarasin: Was ist Wissensgeschichte? In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011), S. 159–172.
  5. Diderot (Anmerkung 1), S. 635.
  6. Ebd.
  7. Ebd., S. 637.
  8. Philipp Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. München 2011.
  9. Vgl. Jan Hodel: Verkürzen und Verknüpfen. Geschichte als Netz narrativer Fragmente: Wie Jugendliche digitale Netzmedien für die Erstellung von Referaten im Geschichtsunterricht verwenden. Bern 2013, S. 82-126; zur Figur des Produsers einführend und mit weiterer Literatur: Peter Gautschi: Mit “Wischen” und “Scrollen” durch die Schweizer Geschichte. In: Public History Weekly 1 (2013) 16, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-962 (aufgerufen am 22.6.2016).
  10. Wikipedia.org: https://de.wikipedia.org/wiki/Eurozentrismus (aufgerufen am 22.6.2016).
  11. Wikipedia.org: https://de.wikipedia.org/wiki/Kolonialismus (aufgerufen am 22.6.2016).
  12. Vgl. den Beitrag von Jan Hodel in diesem Band.
  13. Wikipedia.org: https://de.wikipedia.org/wiki/Entdeckung_Amerikas_1492 (aufgerufen am 22.6.2016).
  14. Vgl. den spanischen Wortlaut der Quelle auf Wikisource: https://es.wikisource.org/wiki/Diario_de_a_bordo_del_primer_viaje_de_Crist%C3%B3bal_Col%C3%B3n:_texto_completo (aufgerufen am 22.6.2016) sowie die Geschichte der Überlieferung auf Wikipedia.org: https://de.wikipedia.org/wiki/Bordbuch_des_Christoph_Kolumbus (aufgerufen am 22.6.2016).
  15. Wikipedia.org: https://de.wikipedia.org/wiki/Entdeckung_Amerikas_1492 (aufgerufen am 22.6.2016).
  16. Vgl. Hodel (Anm. 9), S. 127-170.
  17. Vgl. dazu grundlegend Edward Said: Orientalism. New York 1978; stärker auf die „Entdeckung“ Amerikas bezogen: Stuart Hall, Der Westen und der Rest. Diskurs und Macht. In: Stuart Hall (Hrsg.): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften, Bd. 2. Hamburg 1994, S. 137-179.
  18. Vgl. http://www.songtexte.com/songtext/zuri-west/amerika-gits-nid-3bdb6c20.html (aufgerufen am 22.6.2016). Das Lied vertont eine Kindererzählung Bichsels: Peter Bichsel: Amerika gibt es nicht. In: Ders.: Kindergeschichten. Frankfurt a. M. 1997.
  19. Wikimedia.org: https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Theodor_de_Bry?uselang=de#/media/File:Columbus_landing_on_Hispaniola_adj.jpg (aufgerufen am 22.6.2016
  20. Ridley Scott: 1492: Conquest of Paradise. 1992.
  21. Diderot (Anm. 1) , S. 635.
  22. Werner Hilgemann: dtv-Atlas Weltgeschichte. München 1997, S. 225f.
  23. Wikipedia.org: https://de.wikipedia.org/wiki/Atlantischer_Dreieckshandel (aufgerufen am 22.6.2016); interessanterweise wurde der Artikel am 13. April 2016 mit einer Kritik am Begriff ergänzt, der die Kritik, die die Schülerinnen und Schüler auf der Diskussionsseite formulierten, gut umsetzte.
  24. Wikipedia.org: https://de.wikipedia.org/wiki/Indianer (aufgerufen am 22.6.2016).
  25. Wikipedia.org: https://de.wikipedia.org/wiki/Diskussion:Konquistador (aufgerufen am 22.6.2016).
  26. Vgl. Dietmar von Reeken: Verlaufsformen. In: Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichtsmethodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2007, S. 260-272.
  27. Hinzu kam eine Sicherung des prozeduralen Wissens, indem die Schülerinnen und Schüler Konsequenzen aus dem Unterrichtsprojekt für ihren alltäglichen Umgang mit Wikipedia formulieren mussten.
  28. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a. M. 2002. S. 19; vgl. dazu auch Hans-Jörg Rheinberger, Mischformen des Wissens. In: Ders., Iterationen. Berlin 2005, S. 74-100.
  29. Zwei Differenzierungen sind hier nötig: Erstens ist diese „Reinigung“ gemäss Bruno Latour für jede Repräsentation von Wissen kennzeichnend. Zweitens ist die „Reinigung“ beim enzyklopädischen Wissen insgesamt zwar besonders intensiv, allerdings ist sie gerade bei der Wikipedia aufgrund der vielen Nachweise sowie der Versionsgeschichte der Artikel nicht ganz so ausgeprägt.
  30. Zur Arbeit mit der Wiki-Software vgl. den Beitrag von David Stöckli in diesem Band.
  31. Vgl. zu diesen Kategorien Wolfgang Hasberg/Andreas Körber: Geschichtsbewusstsein dynamisch. In: Andreas Körber (Hrsg.): Geschichte – Leben – Lernen. Bodo von Borries zum 60. Geburtstag. Schwalbach 2003, S. 177-200.
  32. Vgl. Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos. Reinbek 2000 (Originalausgabe: 1942).

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